reine formsache
Christine Matthias arbeitet im Grenzbereich zwischen Schmuck und Objekt. Auch die während des Stipendiums entstandene Brosche bewegt sich als Behältnis gesehen in diesem Bereich. Die Schmuckkünstlerin hat während des Fördereitraums intensiv mit silberschmiedischen Techniken experimentiert und sich an großformatigere Arbeiten gewagt, die nicht zwingend Schmuck sein müssen oder sollen: reine Formsache eben. Der Prozess, manuell großformatige Stücke zu erarbeiten, ist sowohl material- als auch zeitintensiv. Thematisch hat sie Stränge aufgriffen, die sie in ihrem künstlerischen Werdegang beiseitegelegt hatte, aber als "noch nicht beendet" erkannt hat: Dazu zählt das "erhabene Relief", ein Konzept, das sie ausschöpfen und in größere Formate transponieren wollte.
Identifikation und Abstand
Die Großmutter der Künstlerin war eine der letzten Frauen in Niedersachsen, die noch täglich eine Tracht trug – Zeichen der Identität, der Verwurzelung in einem Milieu, einer Region. Ein Brustschild, das Teil ihrer bäuerlichen Festtagstracht war, die so genannte Spange, befindet sich im Eigentum der Familie: Achteckig im Umriss, versehen mit den Initialen der Besitzerin, versilbert, vergoldet, mit Glassteinen reich verziert, erstmals getragen zur Konfirmation – ein Schmuckstück also, das eine Geschichte hat und mit Bedeutung aufgeladen ist, wie es einem heute kaum mehr begegnet. Es gehört in eine Zeit, in der es zumeist noch Sicherheit durch einen fest umgrenzten, klar vorgezeichneten Lebensentwurf gab, der selten infrage gestellt wurde. Christine Matthias’ Broschen, die in der Form auf dem Schmuck ihrer Großmutter basieren, repräsentieren eine völlig andere Realität – ihre eigene, zwei Generationen später: Ihre Brustschilde aus edlen und unedlen Materialien sind ohne Signen, die auf die Herkunft verweisen, sind beschädigt, die Zentren leer, manche davon sind lose übersponnen, überschrieben – Symbole für Lebensläufe, die selbst entworfen, selbst gestaltet werden wollen, Symbole für die scheinbare Macht alles werden, aber auch alles verlieren zu können, Symbole auch für die große Verlorenheit und Desorientiertheit wegen der schier unbegrenzten Wahlmöglichkeiten.
Nachgetragen
Die Arbeiten der Künstlerin zeichnen sich durch Subjektivität ohne
Anpassung an aktuelle Moden und gängige Klischees aus. In ihrem Arbeitsstipendium
hat Christine Matthias Schmuckstücke für drei Personen aus ihrer Kindheit und
Jugend angefertigt; deren Lebenswege und die Beziehung, zu der die Künstlerin
mit diesen Personen stand, sind in die Arbeit eingeflossen. In der persönlichen
Auseinandersetzung mit den Kriegs- und Nachkriegsbiografien ging es ihr in
erster Linie um die veränderte Sichtweise auf die Dinge und um eine
nachträgliche Würdigung. Diese wird durch das Medium Schmuck zum Ausdruck gebracht.
Für ihre Tante fertigte Christine Matthias ein zartes silbernes Armband und
eine einen Halsschmuck aus einer Art Doppelösen, die ineinandergreifen und eine
geschmeidige, fließende Kette bilden. Freihängende Saphirstränge verleihen dem
Stück spielerische Bewegungen. Die Dame mit dem Dackel hingegen erhielt einen
üppigen Halsschmuck und eine Brosche, die an Polstermöbel erinnern und eine
dominante und dramatische Ausstrahlung besitzen. Für Karl fertigte die Künstlerin
ein bewegliches Objekt, welches die Assoziation an ein Taschentuch mit Umrandung,
Stickerei und Initialen hervorruft, und verwarb damit mehrere Erinnerungen und
autobiografischen Details an ihn. Die entstandenen Stücke sind vor allem eins:
Eine Widmung, da sie nicht mehr von den ausgewählten Personen getragen oder in
Empfang genommen werden. Die Arbeitsergebnisse präsentierte Christine Matthias in der Ausstellung
„Halbzeug“ im November 2010 zusammen mit Sybille Richter und Ann Schmalwaßer im
Mansfeld Museum Hettstedt.
1969
in Celle geboren | 1992 – 1996 Studium an der Fachhochschule für Kunst und Design
Hannover Studienrichtung Innenarchitektur, davon 1995 ein Auslandssemester am
Politecnico Milano | 1996 – 2002 Studium an der Burg Giebichenstein – Hochschule
für Kunst und Design Halle Studienrichtung Schmuck | 2001 Prämierung beim
Wettbewerb »Schmuck für Novalis«, Oberwiederstedt | 2002 3. Preis beim
Nachwuchsförderwettbewerb der Berta Heraeus und Kathinka Platzhoff Stiftung,
Gesellschaft für Goldschmiedekunst Hanau | 2003, 2005, 2006 2009, 2011 Einzelausstellungen
in der Galerie Marzee, Nijmegen/Niederlande,
ebenso 2008 sowie Auszeichnung mit dem Marzee-Preis | Ausstellungsbeteiligungen
u. a. 2008 bei der Comune di Padova/Italien, 2009 KORU3 International
Contemporary Jewellery,
Imatra/Finnland und 2011 im Marijke Studio, Padua/ Italien | 2010 3. Platz beim
Wettbewerb zur Neugestaltung eines Sarges für die Grablege der Königin Editha
im Dom zu Magdeburg, ausgeschrieben durch die Kunststiftung | lebt als freischaffende
Schmuckkünstlerin in Halle (Saale)
Publikationen:
Galerie Marzee, Nijmegen (Hrsg.): Christine Matthias – Schmuck, Nijmegen, 2009
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