realexistierende Landschaften (Zeichnungen)
Durch die Wirkmächtigkeit der Natur fühlte sich Sarah Deibele direkt vor Ort beim Zeichnen gehemmt, so dass ihre Arbeiten größtenteils im Atelier entstanden. Dabei stellte sich ihr die Frage: Ist es sinnvoll, die Zeichnungen in einem Buch zu reproduzieren? Was gewinnen, was verlieren sie, wenn nicht das Unikat im Mittelpunkt der Absicht steht? Ihr kam die Idee, verschiedene Zustände ihrer Zeichnungen festzuhalten, scannte die Blätter, zeichnete weiter, scannte sie und so fort. So können im Buch alle Zwischenzustände sichtbar gemacht und genutzt werden, um die Landschaft als Abfolge zu erzählen. Dieser Ablauf bestimmte schließlich von vornherein ihre Arbeit: Wie leer soll das Blatt beim ersten Zustand sein, was ist ein gültiger, der dennoch nicht fertig ist? Was erzählt der Ablauf? Wetterwechsel? Jahreszeiten? Wie viele Schichten sollen übereinandergelegt werden? Soll nur ergänzt oder auch weggenommen werden? Seit sie so arbeitete, begann sie ihre Zeichnungen vor Ort bei den Ausflügen, arbeitete sie im Atelier aus dem Gedächtnis weiter. So verband sie ihre gewohnte mit der neuen Arbeitsweise, z. B. bei dem Motiv zu „Entlang der Weide“.
Aber sie ging auch einen anderen Weg, z. B. zeichnete sie zu dem Gedicht „Der Hirtenstab“ ein Blatt, setzte die Überarbeitung aber nicht auf diesem Papier fort, sondern begann ein neues Blatt, experimentierte, wie genau sie das erste Blatt abzeichnen möchte und setzte dann das Motiv fort. So entstand eine Reihe. Bei weiteren Versuchen erschloss sich ihr die Antwort auf die Frage: Was ist möglich, wenn Original und Abbildung im Buch weder in Größe noch im Seitenverhältnis deckungsgleich sind, ohne dass die Zeichnung verliert? Sie erzählte die Motivabfolge als Ausschnitte ein und derselben Zeichnung, zoomte in die dargestellte Landschaft hinein, „spazierte“ so darin weiter. Dies war z. B. bei „Die Hunderunde“ der entscheidende Ansatz. Entstanden ist ein umfangreicher Dummy für das gemeinsame Kunstbuch. Das größte Kapitel sammelt Paare aus Zeichnungen und Text. In weiteren stehen Zeichnungen bzw. Gedichte für sich. Das Stipendium hat schließlich auch die Arbeitsweise Sarah Deibeles bei Druckgrafiken beeinflusst: Im Digitalen entdeckte sie ihren Wunsch, den Prozess des Zeichnens einzufangen und als Erzählung zu nutzen. Auch in der Druckgrafik überführte sie dieses Prozesshafte ins Analoge: bearbeitete die Druckplatte, druckte ein gültiges Blatt, überarbeitete sie erneut, druckte und so fort. Sie variierte außerdem Papierfarbe, Druckfarbe, kombinierte die Tiefdrucktechnik à la poupée und Chine-collé, mit der auf besonders feine Papiere gedruckt wird. Das Ergebnis ist eine Unikatdruckserie von Radierungen.
Vom Abbild zur Abstraktion, von Papier zu Emaille
Gezeichnete Erzählungen und erzählte Bilder
Die feinen Bleistiftzeichnungen von Sarah Deibele
erinnern an kurze Erzählungen, die mit einprägsamen Details ganze Geschichten
entfalten. Während ihres Arbeitsstipendiums hat sie ihre Bilder nun um tatsächliche
Textfassungen erweitert und sich damit auf die Suche nach einer eigenen
poetischen Sprache gemacht. Im Mittelpunkt ihrer Auseinandersetzung standen
dabei alltägliche Orte, die durch den Menschen geprägt und erst durch seine
Anwesenheit definiert sind, aber auch Orte, die ihre eigene Persönlichkeit
besitzen, ungeachtet menschlicher Aufmerksamkeit. Das Haus, der Stadtpark, der
Hinterhof, das Versteck lauten schließlich auch die Titel einiger Arbeiten. Die
begleitenden Texte erinnern in ihrer reduzierten Sprache an Gedichte ohne
Reimschema, die der Zeichnung eine Richtung geben. Doch die Fantasie des
Betrachters ist dennoch gefragt: Bewusst handelt es sich nicht um
Beschreibungen des Gesehenen, vielmehr entfalten die Worte ihre eigene
künstlerische Form, die nur einen Assozialtionsraum öffnet. Inspiration holte
sich die Künstlerin dafür bei den Erzählungen und Gedichten Herta Müllers und
Marion Poschmanns und deren bildhafter, eindringlicher Sprache.
Sarah Deibele arbeitet ohne Vorzeichnung und Vorlage.
Einflüsse aus der Druckgrafik treten in ihren Zeichnungen ebenso hervor, wie
ein bewusstes Spiel mit gegensätzlichen Stricheigenschaften (klar, unscharf,
breit, schmal). Ihre Werke zeichnen sich daher durch einen großen
Kontrastumfang aus. Ebenso wie in den begleitenden Texten ist auch in den
Bildern die Frage nach dem Format relevant: Größe und Maß erlauben der
gezeichneten Erzählung mal mehr, mal weniger Raum zur Entfaltung.