Loading...

Lukas Schilling

Bildender Künstler und Designer

Internationales Arbeitsstipendium: Los Angeles Oktober –Dezember 2022

Seismic Sensation. The faults in our planet (AT)/ You are the help until help arrives.

Ursprünglich plante der Künstler, sich mit dem Thema Seismologie auf recht technische und abstrakte Art und Weise zu nähern. Die Untersuchung sollte zunächst in einer Auseinandersetzung mit der wissenschaftlichen Disziplin und deren Instrumenten bestehen. Mit dem Beginn seiner Arbeit in Los Angeles und dem Verlassen gewohnter Strukturen begann sich seine Arbeitsweise jedoch im Ansatz zu ändern. Mit Mikrofon und Kamera bewegte er sich dokumentierend durch die Stadt und sehr bald richtete sich sein Interesse immer weniger auf das Phänomen des Erdbebens an sich und immer stärker auf dessen indirekte Einflüsse auf das alltägliche Leben der Menschen. Sein Interesse galt nicht mehr der tatsächlichen Katastrophe oder des Ereignis an sich, sondern vielmehr seiner Fiktion oder zukünftigen Möglichkeit und dessen Einfluss auf das gegenwärtige Verhalten der Menschen. Im Laufe der Zeit trat daraus vor allem die Frage in den Vordergrund, welche Rolle Kreativität und Fantasie im Speziellen hinsichtlich einer erfolgreichen Antizipation konkreter zukünftiger Ereignisse und sehr viel allgemeiner hinsichtlich einer Zukunftsfähigkeit spielen. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung entstand die Arbeit „You are the help until help arrives.“, eine 3-Kanal Videoinstallation. Die Bilder der Videoarbeit wirken wie die Sequenzen eines Fluchttraums. Alles soll schnell gehen, doch die Bewegungen gerinnen, als würden sie von einer großen Trägheit beherrscht, in einer Zeitlupe. Wie eingeschlafen wirkt die Frau in der ersten Szene, die auf einer Decke im Eingang eines Hauses liegt. Es lässt sich nicht genau sagen, ob die Bewegungen ihrer Beine bewusst oder lediglich unwillkürlich geschehen. Braucht sie Hilfe oder wäre es unhöflich, sie zu wecken? Im Anschluss steigen Menschen wie Schlafwandler eine Treppe herab und geben dabei den Blick auf einen auf dieser Treppe liegenden menschlichen Körper frei. Dem Zuschauer drängt sich, neben der Frage nach dem Zustand der liegenden Person, die Frage nach den Ursachen der Ignoranz der Passanten auf. Darauf folgt eine Szene, die auf einer Wiese kniende und kauernde Menschen zeigt. Ein Mann hält sich einen umgedrehten weißen Klappstuhl über den Kopf. Zwischen den Kauernden steht ein Mann. Gilt ihre Haltung ihm, oder fürchten sie, der Himmel könnte ihnen auf den Kopf fallen? Während der weiteren Szenen wird deutlich, worum es geht. Die Aufnahmen entstanden während der Übung eines Community Emergency Response Teams (CERT), einer nachbarschaftlich organisierten Katastrophenübung in einem Stadtteil der am San-Andreas Graben gelegenen Stadt Los Angeles im US-Bundesstaat Kalifornien. Grund der Übung ist die Erwartung eines Erdbebens der Stärke 9. „You are the help until help arrives“ eröffnet in diesem Sinne einen utopischen Raum zwischen zwei funktionalen Systemzuständen und unterbricht für einen kurzen Moment die Logik und den Verlauf unserer gewohnten Wirklichkeit, indem das Stellvertretende und Provisorische zum Eigentlichen und Echten wird. Was im Alltag von der CERT-Gemeinde immer nur als fiktives Szenario, als ein Schauspiel exerziert wurde, wird während der Katastrophe - und nur dann - zur Wirklichkeit. Menschen, die im echten Leben immer nur Schauspieler in Katastropheninszenierungen sind, werden in der Unwirklichkeit der Katastrophe zu echten Rettern. In der Unterbrechung des regulären Programms durch die Katastrophe sind die sonst in die Abläufe des Systems integrierten Bestandteile sich selbst überlassen. Dieser anarchische Zustand führt einerseits zu Orientierungslosigkeit und Chaos, andererseits ist er ebenso ein Moment der Selbstverwirklichung - der Eigenverantwortung, der Kreativität und Improvisation. Die Katastrophe bringt das Beste und das Schlechteste in Menschen zum Vorschein. In ihrer Unmittelbarkeit zeigen sich – so scheint es – die wahren Gesichter der Menschen, die sonst unter den Masken ihrer gesellschaftlichen Rollen verborgen sind. Analog zur Unterbrechung der kontinuierlichen Prozesse durch die Katastrophe wurden die Sequenzen der Videoarbeit so weit verlangsamt, dass die Brüche im Fluss des Films - die Übergänge zwischen den einzelnen Frames - sichtbar werden und dessen Zusammenhang zu einer Reihe einzelner Bilder zerfällt. Die zum Vorschein gebrachten Umbrüche wurden anschließend durch die Interpolationen eines Algorithmus geglättet. Bei dieser Methode werden ausgehend von den Unterschieden benachbarter Frames neue computergenerierte Bilder erzeugt, mit denen die Lücken, die durch die verlangsamte Wiedergabe entstehen, gefüllt werden. Diese Bilder werden, ähnlich wie die Imagination fiktiver Katastrophenszenarien, auf der Basis von Vermutungen, Berechnungen, Wahrscheinlichkeiten und Annäherungen erzeugt. Was im Bereich zwischen zwei Bildern tatsächlich passiert, kann ebenso wenig mit definitiver Sicherheit berechnet werden, wie der Verlauf einer Katastrophe präzise vorhergesagt werden kann. Je doch können beide Lücken mit einer unendlichen Variation von möglichen Szenarien und Entwürfen gefüllt werden. Fehlstelle und Bruch offenbaren sich damit nicht nur als Abgrund und Gefahr, sondern ebenso als Möglichkeitsraum und damit als eine Voraussetzung kreativer Prozesse und eines freien und selbstbestimmten Handelns. Zukunftsfiktionen, Schauspiel und der Entwurf von Katastrophenszenarien zeigen sich als der Ausdruck einer lebensrettenden Fähigkeit zur Fantasie
Vita
  1989 in Darmstadt geboren │ 2009 – 2012 Ausbildung zum Tischler │ 2012 – 2014 Studium an der Johannes Gutenberg Universität Mainz, Ethnologie (Bachelor of Arts) │ 2014 – 2018 Studium an der Westsächsischen Hochschule Zwickau-Schneeberg, Angewandte Kunst, Objekt- und Produktdesign (Bachelor of Arts) │ 2018 – 2021 Studium an der Burg Giebichenstein Kunsthochschule Halle, Design Studies (Master of Arts) │ seit 2019 selbständig als Bildender Künstler und Designer │ lebt in Halle (Saale)