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André Schinkel – Der Nachtigallschlag

Als Güntherson erwachte, war alles unverändert. Seit Wochen die Schwebe. Lediglich der Himmel schien ihm etwas heller als sonst.

Mühsam raffte sich Güntherson hoch, überlegte, ob er den Tag, der ein Mittag war, mit Kaffee beginnen möchte oder mit dem, womit er in der Nacht aufgehört hatte: Longdrinks aus seinen schwindenden Wein- und Spirituosenvorräten, mit Eis und Limone passend, auch weniger passend garniert.

Er entschied sich, als er den Rest des üblen Brands vom Vorabend in die dunkle Filterbrühe laufen ließ, für einen Zwischenweg – auch wenn er jeden ›Morgen‹ so tat, als würde er sich die Frage wieder und wieder stellen, hatte er es doch eben wieder auch und genauso gemacht, und es schüttelte ihn.

Nun durfte der restliche Tag kommen.

Außer den sich entfernenden Sirenen und dem Hubschraubergeräusch – das er noch vom kein halbes Jahr zurückliegenden Anschlag in seiner Straße kannte – lag die Stadt still und schien seit Langem schon die Luft anzuhalten. Aber just das sollte sie nicht, wenn man den unaufhörlich wispernden Sondersendungen im Radio und in den Netzen Glauben schenken mochte: Irgendwann wäre kein Raum mehr, sie zu beatmen, so schallte es langsam im abklingenden elektrischen Stimmengewirr nach. Die Angst, die Ruhe, das Neue, die plötzliche Unmöglichkeit der einfachsten Dinge hatten sich nicht nur in Güntherson seltsam vermischt.

Und dieses Miteinander-vermengt-Sein, es klang in ihm, seiner ihm lange leer und still vorkommenden Behausung lange noch nach. Jeden Abend, bevor er begann, sich seine abenteuerlichen Longdrinks zu mixen, zündete er eine Kerze an im westlichen Erker seiner Wohnung, es war – neben den Sternen, Orion und die Plejaden, viele Nächte seine einzige Unterhaltung. So hatte er viele Stunden verbracht, unfähig, zu denken, zu notieren und am Plot seines brachliegenden Romans zu bauen; wofür er nun Zeit gehabt hätte, was ihm aber schlichtweg nicht von der Hand ging. Was hätte er sonst für diese Zeit gegeben. Aber das sollte sich ändern, sagte er, noch leis, und seine Gedanken redeten nun lauter davon.

Täglich, wenn der sanfte Kater verrauscht war, suchte er sich zu erinnern. Seit die Überlebenshilfen eingetroffen waren, sah er auch das ihn direkt Umgebende wieder klarer. Seiner anfänglichen Zögerung, hinauszugehen, war nun die allfällige Maskierung gewichen. Die Wege schienen unter diesem seltsamen Stoffatem weiter; und seiner sowieso zögerliche Anteilnahme an der Welt hatte sich zunächst noch einmal verlangsamt. Das Trinken und Warten und Hinaussehen, hatte er sich über Wochen gesagt, es möge ihm genügen. Kaum erinnerte er sich. Erinnern. Das war, als noch ein Rest Hoffnung bestand. Nur immer Ludmilla hatte er geschrieben, nicht wissend, ob, hoffend, daß sie seine Briefe erreichten.

Es war ihm wichtig geblieben; er hatte sie in dieser Krise verloren: ihre Schwebe hatte sich durch diese alles greifende Krise geklärt. Auch heute, wenngleich es erst auf den Nachmittag zuging, setzte er sich und schrieb an Ludmilla. Sie antwortete ihm nicht, nicht mehr, aber er antwortete ihr jeden Tag.

Still. Ohne Vorwurf. Und erzählte ihr, wovon er hörte, in den wenigen Telefonaten, die ihn erreichten. Die Natur erholte sich, er hörte von Schmätzern, Schwarzkehlchen und Wiedehopfen, die vor der Stadt brüteten, wieder brüten sollten. Und dem Pirolpaar, das auf dem Nordfriedhof eingezogen war.

Pirole, um diese Zeit, inmitten der Stadt. Wenn das kein Zeichen war. Vor seinem Fenster sangen die Amseln, immerhin, als wäre nichts geschehen. Die Mauersegler waren aus dem Süden zurück und schrillten über die Dächer. Und zum Fluß hin, stellte er sich vor, sangen die Nachtigallhähne.

Im weiteren Umland der Kuckuck, wie er versuchte, in wenigen Wochen die Nester der anderen Gefiederlinge zu füllen. Und er? Wenn er so an Ludmilla schrieb, war er dann nicht selbst auch ein Nachtigallhahn?

Wahrscheinlich. Bei den Briefen hatte ihn mehr und mehr eine traurige, aber doch eine Art andere Ruhe überkommen als die, die ihn nun schon Wochen umgab. Als nun die Anfrage kam, sich an einem Abend, mit aller Vorsicht, zu treffen, wußte er, es würde vielleicht sein letzter Brief an Ludmilla sein.

Vielleicht wäre nun anderes wichtig.

Er setzte den Stift ab, betrachtete die Seiten mit seiner Schrift, legte sie in ein Kuvert und ließ es auf dem Schreibtisch liegen.

An diesem Abend würde Güntherson, bei aller Vorsicht, nicht allein sein müssen, sagte er und wunderte sich, wie er sich mit Namen ansprach. Einmal noch hatte er mit Ludmilla gesprochen, still, ohne Vorwurf.

Nun zog er sich an und sah durch das Fenster auf die noch helle Straße, wiegte den Kopf über das maskierte Treiben, atmete durch und versah sich selbst mit dem von nun an obligatorischen Gesichtsputz.

Dann ging er los. Sein benutztes Leben ließ er in der Spüle seiner Küche zurück. Es würde, wenn er wiederkäme, immer noch da sein.

 

 

Schreiben in Zeiten von Corona (Zeichnung: Sebastian Gerstengarbe)

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