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André Schinkel – Die Erinnerungen

Die Erinnerungen gehen durch die Räume, und sie fangen sich unter den Stürzen der Türen, in den Stuckkringeln an der Decke. Ich gehe, draußen rauscht in unendlicher Stille vorbei, was sie »das Fest« nennen, und die regennassen Straßen, die sich unter den Fenstern meines Erkers kreuzen, leuchten unter dem Schwanken des Herrnhuter Sterns, der gegenüber am Eingang des Ladens schwankt.

Eine letzte der berühmten Stollen wartet dort noch in den Auslagen, sonst ist alles leise und kaum bewegt. Der Stern neben der Tür des Ladens dreht sich in der klaren und zugleich feuchten Luft, die auf dem Viertel liegt. Es ist die besondere Stille des Heiligen Abends, sage ich mir, und aufgrund der Auflagen kann ich aber nirgends sein als hier … selbst den Geist der Weihnacht darf man in diesem Jahr nicht aus den Stampfern und Bierseideln der Kneipen lesen, denn die Kneipen sind dunkel und geschlossen; das »Bis bald!« auf den Angebotstafeln leuchtet blaß und verwischt in die durstigen Augen, wenn man sich wagt, doch aufzubrechen.

Einzig der Orion, der Stier, die Giraffe und Kassiopeia stehen karg und kaum zu ahnen zwischen den Wolken eines späten Himmels, wenn ich hier bin und an die Wochen und Monate denke, die mich hierher führten. Ich denke der Frau, die ich liebe – die heute nicht bei mir sein kann. Ich denke der Töchter – deren Worte, deren Duft, deren aufgeweckter Hunger noch vor wenigen Stunden mit mir um den Tisch saßen; und ich erinnere mich des Glücks und der Wehmut, als sie bei mir waren und dann doch weitermußten, an die Potenzierung der Stille, als sie weiterfuhren, in ihre kleinen Autos verfügt, den Trainingseinheiten ihres Vereins zu, der auch über die feierlichen Tage nicht ablassen möchte, seine Statistik  zu verbessern … nicht, trotz der Lage, die dieses Land traf, um des Durchhaltens nicht, von dem die Offiziellen nun schon so lange und in zunehmender Hilflosigkeit reden.

Es ist so schnürend still, daß ich von Fenster zu Fenster gehe und Ausschau halte, ob nicht doch jemand auf den Straßen einhergeht und ebenso auf leiser Suche wie ich. Und ich erinnere mich dabei an die Feste, als meine Kinder noch klein waren und das Blitzen ihrer Augen noch kindlich … wie sie sich in der Art hüpfender Bälle um die Geschenkhügel des festlichen Zimmers bewegten, auf das Kommando zum Aufreißen des Geschenkpapiers wartend, und schier platzen wollten vor Vorfreude und Licht. Ein Gefühl der anrührendsten Schönheit, der berührenden Hilflosigkeit in der Liebe, der Geborgenheit im Leuchten der Kinderaugen zugleich.

Bis heute haben sich diese Kinder, die nun Frauen sind, diese Klarheit und die Geradheit ihrer Liebe bewahrt; es hat mich hoffen lassen in Zeiten der Trennung, des Rosenkriegs; es hat mir Kraft gegeben, die Angst zu überwinden; die Wochen, da ich mich nie einsamer fühlte, zu bestehen und nicht zu verzweifeln. Es hat sich die nicht selten schmerzliche Erinnerung an Tage und Stunden in mich gesenkt, daß ich mir oft wünsche, noch einmal an den Moment zurückzugehen und das Vertraute zu genießen, wenn man seine Kinder in Liebe aufwachsen sieht.

Es ist der Duft dieser Jahre, der nun in mir ist, wenn ich hier im Erker stehe und dem Wind auf den sich überlassenen Straßen zusehe, die von den Menschen nur aus triftigem Grund betreten sein sollen. Die Frau und die Töchter, das sind die Dinge, die mich zusammenhalten in diesem Leben – und in dem Moment, da ich sie am meisten vermisse, frage ich mich, ob die Gründe triftig sind, aus denen sie zu mir kamen und kommen und ob das erlaubt und angemessen sein wird. Und ob sich der Schimmer meiner Erinnerungen bewahrheiten wird im Hafen einer neuen Ruhe, die die drückende Ruhe am Ende dieses seltsamen Jahres übersteigt.

Dann ist mir, als klingelte es, und die Töchter kämen auf eine Umarmung noch einmal herauf, die Stille meiner Stube zerteilend. Und morgen käme die Frau, die ich liebe, zu mir – sie würde mir gegen jede Einrede für die Stunde ihres Daseins die Zeit versüßen und erträglich halten, daß sie zu fliegen beginnt.

Es ist die zarte Täuschung, weiß ich, daß die Heilige Nacht unendlich, voller Wunder und Überraschungen sei, die mein stolperndes Herz schnürt.

Ich lege mich hin im kühlen Schein einer nächtlichen Reportage, die gemacht ist, den Einsamen eine Stimme beizugeben. Es sind Erinnerungen und Träume, in denen ich lebe, aber sie gehen jetzt mit mir durch die Räume, und dabei denke ich, sie sind wahr, und der Duft im Erkerzimmer, das Gesteck mit den Lichtern, die Freude, die Umarmungen, die Aussicht auf morgen sind nicht geträumt.

Und während ich in einen späten Schlaf abrutsche, dreht sich der Herrnhuter lind und behutsam durch die Nacht, über der die Sterne karg stehn, in der die Kneipen karg ruhen, in der es eine karge Hoffnung auf Erlösung und ein kommendes, dann wieder so zu nennendes Jahr gibt. Einmal werden wir wieder beisammen sein, heißt es, und wir werden uns wundern und genießen, wie schön das ist.

Das ist der gute Gedanke, mit dem ich die Erinnerungen und Träume schultere und durch die Pforte ins Reich der Rauhnächte eingehe. Draußen nur Wind, und das fahl-schöne Leuchten der stillsten Weihnacht, die die Welt jemals sah.

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