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„Das Epos lässt sich mit Goethes Faust vergleichen“

Interview mit Winfried Eckstein, Leiter des Goethe-Institutes Hanoi

Kunststiftung: Wie kam es zu der Ausstellung in Hanoi?

Winfried Eckstein: Bei meiner Vorbereitung auf den Einsatz in Vietnam stieß ich auf die deutsche Ausgabe des Werks von Nguyen Du Das Mädchen Kiéu. Ich war von der Übersetzung begeistert und überzeugt, dass der Stoff nichts an Aktualität eingebüßt hat, sondern so aktuell wie eh und je ist. Bei einem Werk der Weltliteratur stellt sich immer die Frage, ob das Werk auch in anderen Kulturkreisen ankommt, und wie es in anderen Kulturkreisen aufgenommen wird. Goethes Faust findet in Südostasien eine Resonanz, wenn beispielsweise eine buddhistische Deutung gelingt. Die Übertragung der KIÉU ins Deutsche liefert eine Reihe von Anknüpfungsmöglichkeiten, das Werk so zu lesen und zu interpretieren, wie wir es gewohnt sind. In unserer Lesart der KIÉU spielen die Bezüge zum Buddhismus und Konfuzianismus keine große Rolle. Stattdessen neigen wir dazu, in dem Epos vor allem die Leidensgeschichte einer einzelnen Frau zu erkennen.

Als ich darüber nachdachte, wie man einen deutsch-vietnamesischen Kulturdialog zu KIÉU aufbauen könnte, fiel mir Franca Bartholomäi ein. In einigen ihrer Holzschnitte gibt es ein Mädchen, das für mein Empfinden Spuren von Einsamkeit, Trauer und Zorn trägt. Ich glaubte, dass die Lektüre der KIÉU eine passende Inspiration für Franca Bartholomäi sein könnte.

 

Warum hat dieses Epos eine so bedeutende Rolle in Vietnam erlangt?

Eine Frage, auf die es viele Antworten geben kann. Aus meiner Sicht lässt sich die Bedeutung der KIÉU mit Luthers Bibelübersetzung und Goethes Faust vergleichen. Das Buch „Truyen Kiéu“ bringt die gesprochene Sprache Mittelvietnams in eine bis dato nicht dagewesen schriftliche und gelehrte Form, und sie macht aus einem seit über 500 Jahren in Vietnam kursierenden, mündlich überlieferten Gesang ein gereimtes schriftliches Epos von komplexer Bedeutung und sprachlich vollendeter Meisterschaft.

Die nationale Rezeption der KIÉU seit Mitte des 19.Jahrhunderts fällt in die Zeit der Eroberung und Besetzung Vietnams durch Frankreich. In dieser Zeit wird Kiéu aus meiner Sicht zu einer Identifikationsfigur der Vietnamesen für ihr Leiden unter der Fremdherrschaft. Das Besondere an der Geschichte der KIÉU ist, dass das Mädchen nach 15 Jahren Leidensweg (als verkaufte Braut, Prostituierte, Zweitfrau, Magd) auf wundersame Weise gerettet wird. Dadurch kann KIÉU schließlich ihr Leben in Freiheit und Würde fortsetzen.

Das Epos lebte seit dem 19. Jahrhundert in den Köpfen der Gebildeten ebenso wie der Analphabeten. Jeder kannte KIÉU. Die meisten konnten Passagen aus dem Epos auswendig zitieren. Das Mädchen Kiéu war Ausdruck für Leiden und Hoffnung der Menschen. Bis heute ist die KIÉU fest im Denken der Vietnamesen verankert.

Gibt es, was die Bedeutung des Epos KIÉU betrifft, eine deutsche Entsprechung?

Im Vergleich mit der deutschen Literaturgeschichte fällt mir auf, dass sich das vietnamesische Epos darin unterscheidet, dass die Thuy Kiéu (Name der Frauenfigur) am Ende überlebt und ein Leben in Würde und Selbstbestimmung beschließt. KIÉU erzählt von der Resilienz einer Frau, die unter widrigen Umstände gelitten hat. Frauenschicksale in der deutschen Literatur verlaufen vergleichsweise tödlich. Das Gretchen in Goethes Faust wird eingekerkert und übergibt sich der Hand Gottes, Amalia in Schillers Räuber sucht die Wiedervereinigung mit ihrem Geliebten im Jenseits, Fontanes Effie Briest wird von Ehemann und Familie geächtet, erkrankt tödlich und stirbt. Den Frauenrollen in der Oper ergeht es nicht besser.

 

Gibt es in der Geschichte des Mädchens Kiéu noch einen Bezug zur Gegenwart Vietnams?

Jeder in Vietnam hat von KIÉU gehört. Nicht jeder hat es gelesen. Die meisten kennen das Mädchen Kiéu aus der Schullektüre, vor allem den Anfang, wo sich Kiéu für den ins Unglück geratenen Vater zum Verkauf anbietet. Viele betrachten das Epos als Schatz voller Lebensweisheiten. Es ist nicht unüblich, dass man das Buch aufschlägt, um darin Rat zu finden. Steht man vor einer schwierigen Schicksalsfrage, dann ist eine Passage im Buch wie ein Fingerzeig, der weiterhilft.

 

Welchen Stellenwert hat zeitgenössische Kunst in Vietnam, auch im Vergleich zu traditioneller Kunst?

Die traditionellen Künste genießen in der vietnamesischen Öffentlichkeit eine hohe Wertschätzung. Musik und Tanz werden zwar durch die Urbanisierung aus den alten Vierteln und Dörfern verdrängt, andererseits aber als Touristenattraktionen am Leben erhalten. Für die zeitgenössischen Kunstschaffenden in Design, Musik, Gesang und Tanz sind die traditionellen Künste oft nicht nur eine Quelle der Inspiration sondern auch ein Bestandteil ihrer Darbietungen. Damit ist die beispielsweise die Einbeziehung traditioneller Instrumente und Gesänge gemeint, aber auch der Gebrauch besonderer Papiersorten, die Übernahme von Färbtechniken auf Naturbasis, die Praxis der Seiden- und Lackmalerei und des Holzdrucks.

Zeitgenössische Künstler stehen unter dem Druck, neben ihrer Kunst oder durch ihre Kunst Geld zu verdienen und eine Familie zu gründen. Der kulturpolitische Rahmen wird durch den Einparteienstaat, durch Zensur und Bespitzelung geprägt. Das sind bürokratische und inhaltliche Hindernisse für die freie Entfaltung der Kunst. Auch gibt es in Vietnam nur in geringem Umfang staatliche Projekt-Förderung, keine Stiftungen für Kunst und Kultur oder Kunst- oder Fördervereine. Der Kreis der Kunstschaffenden ist einigermaßen überschaubar. Das sagt aber nichts über Qualität, Dynamik und den Ehrgeiz der Künstlerinnen und Künstler aus. Das Internet und internationale Projekte, Stipendien, Residenzen in anderen Länder bieten eine gute und stark nachgefragte Gelegenheit, auf sich aufmerksam zu machen, Publikum zu finden und Erfahrungen auszutauschen. Das gilt für alle Kunstgattungen, insbesondere Bildende Kunst, elektronische Musik und Tanz.

Wie steht es ganz allgemein um die Beziehung zwischen Vietnam und Deutschland? Wie groß ist das Interesse beider Länder aneinander?

Deutschland ist zirka 8500 Km von Vietnam entfernt. Die beiden Länder gehören unterschiedlichen Kulturkreisen an. Hanoi und Saigon liegen soweit von einander entfernt wie Halle und Neapel. Das sind unterschiedliche Klimazonen, Jahreszeiten, Mentalitäten, Militär- sozialgeschichtliche und kulturelle Erfahrungen. Deutschland hat 16 Bundesländer, Vietnam zählt 54 ethnische Gruppen mit eigenen Sprachen und Traditionen. Es ist schwer, diese Frage allgemein zu beantworten.

Vietnam steht weit unten auf Rang 175 von 180 der Länderbewertung zur Einhaltung der Menschenrechte. Beim PISA Test 2015 landeten Vietnams 15jährige Schüler ganz oben auf Rang 8 der teilnehmenden Länder. Deutschland und zwei Dutzend anderer Länder haben mit Vietnam eine strategische Partnerschaft geschlossen. Etwa 140.000 Personen vietnamesischer Wurzeln leben in Deutschland, und 2019 studierten 7.300 Vietnamesen an deutschen Hochschulen. Ein paar tausend vietnamesische Pflegekräfte kümmern sich um Kranke und Alte in deutschen Krankenhäusern und Altenheimen. In der globalisierten Welt sind Deutschland und Vietnam aufeinander angewiesen. Wir Deutsche haben ein großes Interesse an der wechselseitigen Annäherung und Vertiefung unserer bilateralen Beziehungen. Diese Ausstellung von Franca Bartholomäi und die damit verbundene Verständigung über das Nationalepos TRUYEN KIÉU von Nguyen Du ist ein wichtiger Beitrag dazu.

 

Winfried Eckstein bei der Ausstellungs-Eröffnung in Hanoi

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