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Die Zeitreisenden

die Künstler Rolf Müller & Stefan Schwarzer und ihr Expeditionsbegleiter Hrachya Stepanyan im Interview.

Die Kunststiftung des Landes Sachsen-Anhalt vergab im September 2015 mit Unterstützung des Auswärtigen Amtes zwei Stipendien an die Grafiker Rolf Müller und Stefan Schwarzer und schickte sie auf eine Zeitreise nach Armenien. Beide Künstler reisten einen Monat auf den Spuren des genialen Dessauer Romantikers und Zeichners Heinrich Theodor Wehle, der 1802 als einer der ersten Europäer im Rahmen einer geologisch-wissenschaftlichen Expedition nach Armenien aufbrach und mit Feder und Pinsel verschiedenste Landschaften und Bauwerke in einem Reisetagebuch zeichnete, die ihn tief beeindruckten haben. 200 Jahre später waren Stefan Schwarzer und Rolf Müller in Armenien noch einmal auf der historischen Route unterwegs, um herauszufinden, wie die von Wehle dargestellten Schauplätze heute unter völlig anderen kulturellen Einflüssen auf Künstler wirken. In Zeiten, in denen den traditionellen Künsten wie Grafik und Malerei weniger Aufmerksamkeit geschenkt wird als den neuen Medien, sollten sie während einer einmonatigen Exkursion ihre unmittelbaren Eindrücke vor Ort – von der Landschaft, von den kulturellen Reichtümern Armeniens – begleitet von dem Germanisten Hrachya Stepanyanuntersuchen und neu festhalten.
Manon Bursian, Direktorin der Kunststiftung des Landes Sachsen-Anhalt, sprach mit den Künstlern und ihrem Expeditionsleiter über ihre ungewöhnliche Reise und warum man im Zeitalter von Google Earth immer noch grandiose Entdeckungen machen kann.

Sie sind für vier Wochen zusammen durch Armenien gereist, in ein aus der Perspektive der zeitgenössischen Kunst fast unbekanntes Land – viele tausend Kilometer geflogen, dann mit dem Auto gefahren und zu Fuß über Land. Wie war die Stimmung?
R. M: Wenn Künstler reisen, um auf ihrem Gebiet tätig zu sein, suchen sie die Einsamkeit, um losgelöst von sozialen und bürokratischen Verpflichtungen die Seele frei zu haben für das eigene Denken und Tun. In diesem Sinne (ich kann immer nur für mich sprechen) fühle ich mich dank der hervorragenden Bedingungen bezüglich Wohnung und Begleitung durch das vielgestaltige Land verwöhnt und im besten Sinne zu meiner eigentlichen Arbeit stets animiert und innerlich stets motiviert.
St. S.: Die Stimmung war wie ein Seismograph, der von äußeren Umständen wie der Landschaft, das Wetter oder den Entdeckungen geprägt ist. Ebenso bildete sich abseits der Reise ein zweiter und sehr wichtiger Teil der Reise heraus: das sich persönliche Kennenlernen und damit verbunden unsere unterschiedlichen Sichtweisen. Der enorme Altersunterschied sorgte für eine große Bandbreite von Wahrnehmungen und für eine nötige produktive Reibung der persönlichen Auseinandersetzung mit den Reiseerlebnissen.
H. S: Mit Ausnahme der Zeit des Fluges nach Armenien war für mich das Reisen durch Armenien mit zwei deutschen Malern eine Möglichkeit, mein eigenes Land mit den Augen Fremder zu sehen und zu empfinden.
Wie darf man sich eine Reise auf den Spuren des genialen Zeichners Heinrich Theodor Wehle konkret vorstellen?

R. M.: Ich genieße die ganz besondere Expedition auf Heinrich Theodor Wehles Spuren. So wie der frühromantische – damals aktuelle Geist – dessen zeichnerisches Werk prägte, so sollen auch meine Arbeiten ganz der Gegenwart angehören. Der Wandel interessiert mich. Dazu gehört u.a. die Veränderung der Umgebung an der Brücke von Sanahin, welche heute durch ein völlig verwahrlostes Kioskmeer optisch gestört wird. „Was vorher gewesen, es ist vorbei, und es wird, was es niemals gewesen war.\ schreibt Ovid in seinen Metamorphosen. So möchte ich Veränderung nicht nur an einzelnen Objekten zeigen, sondern sie auf die Geschichte, die Kultur und die Menschen des Landes beziehen.
St. S.: Mein Ansatz Heinrich Theodor Wehles Spuren zu verfolgen und sich seinen Werk zu nähern fand durch die praktische Arbeit direkt auf den Straßen von Yerewan oder auch in der Landschaft statt. Mich interessiert Wehles Werk und seine Ideen neu zu denken, sein spontanes und durch äußere Umstände geprägtes Handeln zur Grundlage für die eigene Arbeit zu nehmen.
H. S.: Wenn man die unmittelbaren Spuren nimmt, so scheinen zwei ganze Jahrhunderte mit uns zu sprechen. Für mich ist das auch eine Reise durch die Geschichte Armeniens.
Wie haben die von Wehle dargestellten historischen Schauplätze heute unter völlig anderen kulturellen Einflüssen auf Sie gewirkt?
R. M.: Von Wehle gezeichnete konkrete Situationen sind heute nur wenige zu finden. Sie sind noch immer an ihren alten Schauplätzen, häufig eingebunden in ein oft vernachlässigtes z. T. industrielles Umfeld und haben so wiederum durch ihren ruinösen Charakter einen Hauch Romantik.
St. S.: Ehrlich gesagt, haben die meisten Orte, welche wir persönlich besucht haben eher unscheinbar und nicht so groß und erhaben wie in seinen Zeichnungen gewirkt. Das liegt aber vermutlich daran, dass Wehle erst zeichnen konnte, wenn die Karawane eine Flussüberquerung hinter sich hatte oder eine Rast einlegte, so dass eine schnelle Zeichnung möglich war. Oder aber auch, weil er seine Arbeiten gern mit erfunden Dingen \anreicherte\. Anfangs versuchte ich ebenfalls die Orte zu zeichnen, welche Wehle gezeichnet hatte, aber ich empfand, dass mich diese Arbeit nicht näher zu Wehle bringt. Viel wichtiger ist ihn neu zu denken, in dem man sich ebenfalls öffnet und eigene Wahrnehmungen im Moment des Entdeckens unmittelbar dokumentiert.
H. S.: Man gerät in eine Nostalgie. Heutzutage kann man mit einem Auto durch diese Schauplätze schnell fahren, und das Auge nimmt diese Schauplätze nicht so wahr, wie es früher möglich war.
Was hat sich seit den Zeiten von Wehle am gravierendsten verändert?

R. M.: Von Wehle gezeichnete konkrete Situationen sind heute nur wenige zu finden. Sie sind noch immer an ihren alten Schauplätzen, häufig eingebunden in ein oft vernachlässigtes z. T. industrielles Umfeld und haben so wiederum durch ihren ruinösen Charakter einen Hauch Romantik.
St. S.: Ich glaube am gravierendsten hat sich die Wahrnehmung und die Form diese dokumentieren zu können geändert. Heutzutage können die meisten Menschen mit ihren Smartphones alles sofort fotografieren oder filmen und anschließend im Internet auf sozialen Netzwerken posten. Das ging zu Wehles Zeiten nicht. Mein Ansatz ist es, vor Ort zu sein und ausschließlich dort sowie unterwegs zu arbeiten. Dadurch nehme ich die Orte ganz anders wahr, als wenn ich ein Foto davon machen würde. Zeichnen bedeutet für mich immer genaues Beobachten und Wahrnehmen eines Ortes, wie z.B. den Wind und die Stille in den Bergen spüren und in den Zeichenstil zu übersetzen.
H. S.: Die Atmosphäre, die Landschaft.
Welche Bilder werden Ihnen besonders stark in Erinnerung bleiben?

R. M.: Natürlich sind es die prägenden Leistungen früharmenischer Baukunst, nicht nur der Baukörper selbst, sondern auch die exponierte Lage in der Landschaft. Die Einheit von Architektur, Fels und Weide und dazu die unglaublichen Wolkenbilder und immer wieder die Steine.
St. S.: Für mich ist es schwierig sich auf ein Bild oder mehrere Bilder festzulegen. Aus diesem Grund habe ich während meiner Reise an Serien von Zeichnungen gearbeitet. Projektbezogen habe ich mich mit einzelnen Facetten meiner Wahrnehmung beschäftigt und diese in dutzenden von Zeichnungen dokumentiert. In meinen Arbeiten denke ich nicht in einzelnen Bildern, sondern in Sequenzen von ganz vielen Bildern, welche auch eine Zeitebene besitzen können.
H. S.: Die Sanahin-Brücke, das Sanahin-Kloster, die Karawanserei bei Jerewan (die leider nicht mehr existiert, wie auch die Brücke).
Dank des Internets dringen Bilder aus der ganzen Welt täglich in unser Bewusstsein. Welche Bedeutung hat Reisen im Zeitalter von Google Earth?
R. M.: Ich selbst fühle mich wenig berührt von Internet und Google Earth und halte es lieber mit Bobrowski: “Und ich erfuhr im Anblick eines Steins, wie tiefstes Lieb und tiefstes Leid sind eins.\ Ich atme die Lüfte auf den Bergen unter dem hellen Himmel und bin bewegt vom Rauschen der Wasser und der Farben am Steinmeer. Das gelingt mir dank des Stipendiums in Armenien auf ganz besonders eindrückliche Weise.
St. S.: Das Internet-und Globalisierungszeitalter haben einen sehr großen Einfluss auf das heutige Reisen. Dadurch ist es natürlich viel einfacher, sich zurechtzufinden oder sich zu orientieren. Vielmehr können für mich diese Entwicklungen auch eine neue Qualität der Auseinandersetzung mit der eigenen Identität, Kultur und den interkultureller Austausch fördern. Obwohl wir in einer globalisierten Welt leben, wo sich Gesellschaften und Orte immer mehr angleichen, so gibt es doch wie zu Wehles Zeiten romantisierte und inszenierte (Werbe)Bilder vom „authentischen“ ursprünglichen Ort. Übrigens hat Heinrich Theodor Wehle diese Bildsprache selbst in seinen Zeichnungen für den europäischen Geschmack inszeniert, um damit besseren ökonomischen Erfolg zu erzielen. Als Künstler reizt es mich, mich ebenfalls auf Reisen zu begeben und als moderner Nomade unterwegs zu arbeiten und die Welt zu versuchen zu verstehen. In meinen Arbeiten möchte ich kleine Geschichten erzählen und ein Plädoyer für das vorurteilsfreie und spontane Entdecken von Welt halten.
H. S.: Reisen ist unmittelbares, ja physisch-geistiges Erleben und Dasein im Unterschied zum virtuellen Erleben durch Fotos bzw. Google Earth.
Was geschieht mit Ihren Eindrücken?
R. M.: Die Skizzen und Tagebuchblätter sind Material für die lange Zeit über den Winter – und Grundlage für Zeichnungen, Radierungen und farbige Blätter. Sie können auch selbst schon Teil einer Ausstellung sein.
St. S.: Da ich in Armenien gleich direkt vor Ort gearbeitet habe, verfüge ich über viele fertige Arbeiten. Trotzdem gibt es viele Ideen, welche ich auf Grund von Zeit- oder Materialmangel erst in Deutschland realisieren kann.
H.S. Ich führe deutschsprachige Reisegruppen durch Armenien und meine Eindrücke fließen in meine Erklärungen hinein.
Gibt es für Sie eine Quintessenz der Reise?
R. M.: Basierend auf überwältigenden, aber auch nachdenklich stimmenden Eindrücken führt die kontinuierliche Arbeit in der gewährten Unabhängigkeit und Freiheit hoffentlich zu eigenständigen Leistungen.
St. S.: Diese Frage ist schwierig mit einem Satz zu beantworten, weil eine Reise für mich immer ein Prozess ist und dieser nach meiner Rückkehr nach Deutschland in meiner künstlerischen Arbeit fortgesetzt werden wird. Aber von Armenien bin ich positiv überrascht und kann mir gut vorstellen, das Land erneut zu bereisen.
H.S. Zwei andere deutsche Maler kennen zu lernen und das Land zu bereisen.
Welches war Ihr Lieblingsort?
R.M. Er liegt draußen, weit außerhalb der Großstadt in den Bergen an einem unberührten Ort, da wo schon vor Jahrtausenden Menschen ihre schöpferischen Spuren in den Stein gruben. Inzwischen habe ich neue Orte entdeckt, die ebenso einprägsam sind wie die weit in der bergigen Wildnis gelegenen Plätze der bronzezeitlichen Siedler. Saghmossavank, 30 km von Jerewan im Norden, ist eine wunderbare Kirche. Das große Erlebnis war der Abstieg in die tiefe Schlucht des Kasakh, von wo aus ich bis zur nächsten Kirche in Hovanavank laufen konnte. Das große Erlebnis waren die beiden Kirchen, die selbst schon eindrucksvoll genug sind, im landschaftlichen Zusammenhang zu sehen.
St. S. Mein Lieblingsort war am Kloster \Kloster Tatev\. Ich saß dort auf einem Stein über dem Kloster an einem Berghang und habe den wunderbaren Anblick auf die Klosteranlage, die Schlucht darunter und die Bergketten im Hintergrund davon, mit Aquarellfarbe gemalt. An dem Tag war es sonnig, kaum ein Tourist auf dem Gelände, die stille und majestätische Landschaft sorgten für ein unvergessliches Erlebnis.
H. S.: Mein Lieblingsort sind die Berge Armeniens.

30. November 2015
Kunststiftung des Landes Sachsen-Anhalt

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Bild von Stefan Schwarzer | Buzand (31.10.2015) | Serie von Zeichnungen | 40 Teilig | 29,7 x 21 cm | 2015

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