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In der Katastrophenfiktion

Kunstprojekt von Lukas Schilling über die Übung von Katastrophenszenarien in Los Angeles

Zwischen unberührter Naturgewalt und fiktionalen Katastrophenübungen – Lukas Schilling, geboren 1989 in Darmstadt, lebte von Oktober bis Dezember 2022 in der Villa Aurora in Los Angeles. Im Rahmen seines internationalen Arbeitsstipendiums setzte er sich mit dem Thema Erdbeben auseinander und damit, wie die über allem schwebende, potenzielle Katastrophe auf das Leben und den Alltag der Bewohnerinnen und Bewohner der Stadt einwirkt. In der dabei entstandenen Videoinstallation „You are the help until help arrives“ reflektiert er seine Forschungsergebnisse und Beobachtungen.

Die Aufnahmen entstanden während der Übung eines Community Emergency Response Teams (CERT), einer nachbarschaftlich organisierten Katastrophenübung in einem Stadtteil der am San-Andreas Graben gelegenen Stadt im US-Bundesstaat Kalifornien. Grund der Übung ist die Erwartung eines Erdbebens der Stärke 9. „You are the help until help arrives“ eröffnet in diesem Sinne einen utopischen Raum zwischen zwei funktionalen Systemzuständen und unterbricht für einen kurzen Moment die Logik und den Verlauf unserer gewohnten Wirklichkeit, indem das Stellvertretende und Provisorische zum Eigentlichen und Echten wird. Was im Alltag von der CERT-Gemeinde immer nur als fiktives Szenario, als ein Schauspiel exerziert wurde, wird während der Katastrophe – und nur dann – zur Wirklichkeit. Menschen, die im echten Leben immer nur Schauspieler in Katastropheninszenierungen sind, werden in der Unwirklichkeit der Katastrophe zu echten Rettern. Im Interview mit Kevin Hanschke spricht Schilling über die Katastrophenfiktion, das Leben in LA und den schmalen Grad zwischen Realität und Fantasie.

Wie sind Sie auf das Thema „Erdbeben“ gekommen?

Das Thema Bewegung im Allgemeinen und die Prozesse der Natur bilden bereits seit längerer Zeit zentrale Themen meiner Arbeit. In Kalifornien verbinden sich diese beiden Themen in Form der San-Andreas-Verwerfung, einer Region, an der zwei große tektonische Platten aneinander vorbeidriften. Das führt immer wieder zu kleinen und großen Erdbeben, die zu einer mitunter erheblichen Gefahr für die dort lebenden Menschen werden können. Aus einer künstlerischen Perspektive war für mich vor allem die Beziehung zwischen der Langsamkeit und der gleichzeitigen Gewalt dieser Bewegungen von Interesse.

Wie sind Sie vorgegangen, um einen künstlerischen Blick auf Erbebenkatastrophen zu finden?

Im Anschluss an eine meiner Reise vorausgehende Recherche habe ich mich nach meiner Ankunft in Los Angeles zunächst mit Wissenschaftler*innen unterhalten und Forschungsinstitute besucht. Außerdem habe ich mir die durch plattentektonische Kräfte entstandenen Landschaften auf und um die San-Andreas-Verwerfung angesehen, indem ich sie in mehrtägigen Wanderungen mit Zelt und Kamera durchlaufen habe. Ich habe zu Beginn meiner Reise vor allem versucht meinen Blick zu öffnen und mich zunächst nur auf das Wahrnehmen und Dokumentieren zu beschränken. Im Zuge einer großen Erdbebenübung am Santa Monica College wurde ich dann auf das Thema der Erdbebenvorbereitung (Preparedness) aufmerksam, das mich bis zu meiner Abreise nicht mehr losließ. Im ganzen Stadtgebiet und darüber hinaus organisieren sich Nachbarschaften zu sogenannten CERT-Teams (Community Emergency Response Teams) und inszenieren immer wieder den Ernstfall. Es war faszinierend zu beobachten, dass sich Menschen in einer Stadt wie Los Angeles, dieser Metropole des Künstlichen und der Illusionen, mit Hilfe schauspielerischer Methoden und fiktiver Szenarien auf reale Bedrohungen vorbereiteten.

Warum hat das für Sie einen künstlerischen Wert?

Ersteimal regen die Beobachtungen bei diesen Katastrophenübungen eine Reflexion über einen auch in der Kunst geläufigen Modus an: die Improvisation. Um im unvorhersehbaren Ernstfall handlungsfähig zu sein bedarf es einer vorausgehenden Übung, die auf einer Wiederholung gleicher Muster in immer wieder leicht abgewandelten Szenarien basiert. Auch die künstlerische Fähigkeit zur Improvisation und Spontanität fußen auf diesem Prinzip. Besonders interessant ist in beiden Fällen die Beziehung zwischen dem Statischen, Regelmäßigen und Repetitiven und der Fähigkeit, etwas völlig neues zu erschaffen oder eben auf eine völlig unerwartete Situation dynamisch zu reagieren. Daran anschließend zeigt sich in den nachbarschaftlichen Katastrophenübungen ein Wert von Fiktionalität und Kreativität, der über die bloße Unterhaltungsfunktion hinausgeht. Denn in diesem Fall werden Schauspiel und Inszenierung zu einer Überlebensstrategie, die von echten Menschen und eben nicht von Schauspielern angewandt wird. Von dieser Beobachtung ausgehend stellen sich viele Fragen bezüglich der grundlegenden Relevanz künstlerischer Methoden.

Was waren die guten Seiten am Leben in Los Angeles?

Zunächst einmal ist die Villa Aurora mit ihrer sehr interessanten Geschichte und der grandiosen Lage ein wunderbarer Ort zum Arbeiten und Leben. Hinzu kommen eine Vielzahl besonderer Begegnungen und damit verbunden etliche anregenden Erfahrungen und Gespräche. Neben den Menschen die ich während meiner Zeit in Los Angeles getroffen habe sind es jedoch sicher auch die atemberaubenden Landschaften Kaliforniens mit ihrer ganz besonderen Weite und ihrem unvergleichlichen Licht, die mir noch lange in Erinnerung bleiben werden.

Und die negativen Seiten?

Ich war vorher noch nie in Los Angeles und wie vielen Menschen ging es auch mir so, dass meine Erwartungen stark von den Bildern Hollywoods beeinflusst waren. Das brachte eine erwartbare Enttäuschung mit sich, die ich jedoch nicht als schlecht, sondern eher als aufschlussreich empfunden habe. Zudem ist man als Europäer sicherlich sehr verwöhnt, was die Fortbewegung mit öffentlichen Verkehrsmitteln angeht. Da gerade in Los Angeles der öffentliche Verkehr beinahe vollständig von der Reifen- und Automobilindustrie demontiert wurde, war ich größtenteils auf das Auto angewiesen. Sicherlich habe ich damit verbunden auch einige schöne Erinnerungen, – wie beispielsweise während des Sonnenuntergangs den Pacific Coast Highway herunterzufahren – doch es ist auch erschreckend, wie viele Fahrzeuge sich Tag für Tag durch diese riesige Stadt bewegen.

Wie haben Sie die Aufnahmen angefertigt?

Trotz der veränderten Bedingungen habe ich versucht, mich so viel wie möglich zu Fuß durch die Stadt zu bewegen. Während der vielen Spaziergänge in der Stadt und Wanderungen in den umliegenden Landschaften hatte ich immer eine Kamera und ein Tonaufnahmegerät dabei. So ist, begleitet von Notizen und Skizzen, viel Material entstanden, was ich nach meiner Rückkehr noch weiterverarbeiten werde. Außerdem habe ich mich nach meinen Ausflügen immer wieder mit den gesammelten Materialien gearbeitet. Sich im Nachgang Aufnahmen anzusehen oder zu hören ist eine wunderbare Methode, um sich noch einmal in die Details zu vertiefen, die man im Moment der Aufnahme nicht wahrnehmen konnte.

 



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