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Klaus Rüdiger Mai – Vom beglückenden Finden

 

Auch wenn man in Gefahr gerät, sich zu verzetteln, besteht doch das wahre Abenteuer der historischen Recherche nicht darin, den Hauptwegen zu folgen, konzentriert, ohne nach links oder rechts zu blicken, forsch voranzuschreiten, sondern sich gelegentlich der Verführungskraft von Nebenwegen, von durchscheinenden Lichtungen hinzugeben.  Ist die historische Recherche in Wahrheit nicht eine einzige Abschweifung?

Mitten in einer eher nebenbei unternommenen und eigentlich nicht notwendigen Überprüfung eines Umfeldes, das in meiner damaligen Arbeit bestenfalls eine quartäre Bedeutung besaß, stieß ich auf ein im Umfang geradezu monströses Tagebuch.

Von Fürst Christian II. von Anhalt sind über 17 400 Seiten, die in 23 Foliobänden gesammelt sind, überliefert. Sie lagern im Landesarchiv von Sachsen-Anhalt in Dessau. Von 1621 bis zu seinem Tode führte der Fürst über 35 Jahre lang Tagebuch – und es verging kein Tag ohne eine Notiz. Wenn man sich daran erinnert, dass von 1618 und 1648 in Deutschland der Dreißigjährige Krieg tobte und Christian II. nicht nur das Fürstentum Anhalt regierte, sondern enge Beziehungen zur Kurpfalz unterhielt, schließlich wurde er auch dort geboren, und einem die Tatsache nicht verborgen blieb, dass Mitteldeutschland und die Kurpfalz heftig unter dem Krieg litt, so wird sofort deutlich, was für eine einzigartige historische Quelle dieses Tagebuch bieten muss. Es eröffnet die Möglichkeit, die Zeit aus der Zeit heraus zu sehen, aus der Perspektive eines Zeitgenossen zu betrachten, als unternähme man eine Zeitreise.

Der Dreißigjährige Krieg ist Urkatastrophe, Epochenbruch und Beginn des modernen Europas. Zwei Drittel der Deutschen fanden in diesem Krieg den Tod. Die Konfrontation von Katholizismus und Protestantismus war auf ihrem Höhepunkt angekommen. Unter religiösem Deckmantel wurden rücksichtslos machtpolitische Ziele verfolgt.

Doch einmal auf der Spur, verführt von den Abwegen und Abschweifungen, konnten weitere Quellen ausfindig gemacht werden, die bisher kaum ausgewertet worden waren, wie das Journal der Reise Christians I. von Anhalt 1610 nach Frankreich und England oder der Briefwechsel Christians I. und Christians II..

In der Arbeit rückte ein weiterer Schwerpunkt, der bisher wenig dargestellt wurde, für mich in den Mittelpunkt, nämlich der lange Weg in den Krieg, die politischen Ereignisse, die zum Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges führten.

So begann ich, den hochkomplexen Krieg aus den Biographien von Christian I. und Christian II.  heraus zu erzählen, aus mitteldeutscher Sicht, aus der Sicht meiner Heimat. Natürlich wusste ich einiges über die Zerstörung Magdeburgs durch Tilly. Aber diese Katastrophe aus dem Erleben der Zeitgenossen nachverfolgen zu können, war doch etwas ganz anderes. Nicht vom Krieg als Krieg wollte ich berichten, sondern von Menschen im Krieg. Das Tagebuch Christians II. und weitere autobiographische Quellen ermöglichten, den Weg in den Krieg, den Ausbruch des Krieges und den Krieg selbst aus der Perspektive der Zeit zu rekonstruieren.

Zu den Protagonisten, mit denen ich in die Zeit vor 400 Jahren tauchte, zählen Fürst Christian I. von Anhalt (1568 in Bernburg – 1630 in Bernburg), Vater Christians II.. Er leitete die Politik der Kurpfalz. Sein Wirken trug entscheidend zum Ausbruch des Krieges bei. Als Politiker von europäischem Rang verkehrte er mit allen protestantischen und katholischen Herrschern, als Landesfürst wurde er mit den grausamen Folgen des Krieges, die er im Alltag für seine Untertanten zu lindern suchte, konfrontiert. Im Leben von Vater und Sohn verbindet sich beeindruckend Mikrokosmos und Makrokosmos, kleine Welt und große Welt. Hatten die beiden Anhaltiner als Politiker Umgang mit den Großen ihrer Zeit, mussten sie als Fürsten einer mittleren Herrschaft für ihre Untertanen sorgen und Entscheidungen auf Leben und Tod fällen. Schließlich der Verfasser des monumentalen Tagebuchs selbst, Fürst Christian II. von Anhalt (geboren 1599 in Amberg, gestorben 1656 in Bernburg). Er verbrachte den größeren Teil seines Lebens im Krieg, erst als Begleiter und Mitarbeiter seines Vaters, dann als kühner Truppenführer, als Gefangener des Kaisers, schließlich als regierender Fürst von Anhalt-Bernburg. An allen wichtigen Ereignissen war er beteiligt, denn er war der Sohn des wichtigsten Politikers der Protestanten.

Nach Abschluss der Arbeit bin froh und dankbar, dass die Kunststiftung half, aus dem Nebenweg, auf den ich mich eingelassen hatte, einen Hauptweg zu machen.

 

 

Literatur in Zeiten von Corona (Zeichnung: Sebastian Gerstengarbe)

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