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Marco Organo – Der Fehler im System

Heute hab ich einen sehr guten Freund besucht.

– Im Moment und schon seit Wochen ein Satz, den man eher selten hört, aber trotz Virus ist es ja wieder möglich. –

 

Es war allerdings nicht nur der freundschaftlichen Sehnsucht wegen. Er musste Nadelbäume fällen lassen und wir haben gemeinsam Holz gespalten. Auf dem Rückweg wollte ich nachsehen, ob mein Lieblingsgrafitto noch an der Wand eines Nebengebäudes der Anatomie am Steintor zu finden ist. Es fragt ganz schlicht:

 

Wo ist der Fehler im System?

å                æ

Hier oder        Hier?

 

 

Zugegeben, eher allgemein gehalten, lässt sich dafür aber auf fast jede Situation münzen, also warum nicht auf die aktuelle?

 

Nach zwei Wochen „Leben“ zwischen den eigenen vier Wänden und dem Kiez-Penny inklusive leicht gravitätischem „Danke!“ beim Bezahlen an der Kasse habe ich überhaupt das Reileck mal wieder gesehen. Ich habe mich einfach brav an die Beschränkungsregeln gehalten, bis ich auf die galoppierende Verdorrung bei gleichzeitig wachsenden Selbstzweifeln keine Lust mehr hatte. Natürlich habe ich viel mit Freunden und Familie telefoniert, der Osterbesuch bei den Eltern war auch möglich, im Dichterkreis haben wir neue Texte per Videokonferenz besprochen, aber es war einfach nicht dasselbe…

Keine Aufträge, keine Öffnungszeiten, keine Bühnen, kein Publikum, Existenzen am Abgrund, hustende Jogger, argwöhnische Blicke…

Und jetzt? Politisch verschiedenfarbig in die Welt schielende Rotten, die sich das Bastelmaterial für ihre Meinungspappe vom Amazon-Lieferanten auf die Türschwelle stellen lassen, um dann gegen leider doch vernünftige Anstrengungen gegen die Verbreitung des Virus zu pöbeln und gegen Journalisten zu prügeln.

Ich habe einfach nicht allzu oft Nachrichten gehört, gelesen oder gesehen und glaube also nicht, dass Bill Gates das Virus aus dem Urin der weltbeherrschenden Reptiloiden gezüchtet und per Drohne über Wuhan abgeworfen hat.

 

Jetzt isses so, dass auch die Literaturnacht gestreamt wird. Ich freu mich drauf und bin auf das, was die MitstipendiatInnen zu bieten haben, gespannt und hoffe, dass einmeterfuffzig nicht das neue nah ist.

Bis dahin einfach öfter Hände waschen:

 

Hände

 

Ich stehe im Bad,

schaue in den Spiegel:

die Ringe unter den Augen

sind dunkel und tief.

 

Die Seife aus Honig und Milch

hat genauso tiefe Risse,

und ich fang‘ an zu murmeln:

„Es ist nicht meine Schuld!“

 

Ich wasche und wasche.

Seife die Finger sehr

gründlich ein und frage

nicht wen, sondern „Was

 

habe ich heute schon

berührt?“ Murmel weiter:

„Noch nicht, noch nicht,

immer noch nicht…“

 

Wirklich sauber.

 

 

und lieber mit Whiskey als mit Chlorix gurgeln.

 

Schreiben in Zeiten von Corona (Zeichnung: Sebastian Gerstengarbe)

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