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Max und seine Burg – Die transportable Ritterburg von Max Schaaff

Fast jedes Jahr zur Weihnachtszeit, wenn ich Zörbig besuchte, stand sie auf dem Fensterbrett im Sonderausstellungsraum des Heimatmuseums. Kinder wie Erwachsene blieben vor ihr stehen, betrachteten ihre Zinnen, die Zugbrücke, den hohen runden Turm und die im Burghof aufgestellten, innehaltenden Ritterfiguren. Mit Lanzen, Äxten, Morgensternen und Schilden kämpften sie ihren in der Zeit gefrorenen Kampf seit Jahrzehnten – schlugen ohne Unterlass und ohne jedes Anzeichen von Müdigkeit aufeinander ein. Die fantastische Kulisse dieser Burg mit roten, verwitterten und moosbewachsenen Mauern, den grauen Dächern und den zinnenbewehrten Türmen, von denen der höchste in seiner Laterne eine kleine Glocke aus Blech trug, machte Eindruck. Noch dazu trat ein schwacher Lichtschein aus den spitzbogigen Fenstern – das Licht des sich die Haare kämmenden ‚Burgfräuleins‘? Nein, die schwache Birne einer Batteriebeleuchtung.

Man sah es manchem Kind an, dass es zugreifen, spielen – dass die Fantasie das kleine Burgensemble zum Leben erwecken wollte. Das ersichtliche Ziel: Mit einem Elastolin-Ritter in der Hand sich die Rampe emporkämpfen bis zur Zugbrücke, die man tatsächlich mit einer kleinen Kette schließen konnte. Im Burghof würde man sich dann mit anderen Rittern messen: Einzig blaue, rote oder gelbe Akzente auf den Harnischen oder Schilden unterschieden die grau gerüsteten Kämpfer. Ein herrliches Gefühl, vielleicht der „Burgherr“ zu sein und als Sieger die im Bergfried befindliche Glocke am Bindfaden mit der Holzkugel zu läuten. Es galt etwas zu erobern. Unter der schwarz-weiß-roten Reichsflagge wurde aus der spielerischen Fantasie nach 1933, als die Nationalsozialisten an die Macht kamen, nur allzu bald bittere Realität. Mörderische Aktivitäten verdrängten ritterliche Tugenden, aus Spiel wurde Ernst.

Max Schaaff (1926–2014), alteingesessener Buchhändler und -binder, gab die um 1930 entstandene Ritterburg, mit der er so viele Kindheitserinnerungen verband, als Geschenk mit anderen Spielzeugen an das Heimatmuseum. Seine Familie wohnte seit Mitte des 18. Jahrhunderts in Zörbig. Er hatte sich mit anderen Mitgliedern des Heimat-Vereins Zörbig 1922 e. V. um die Rettung und Erhaltung des historischen Stadtarchivs und die Bearbeitung des Nachlasses des Schriftstellers Victor Blüthgen und seiner Frau Clara verdient gemacht.

Die aus Holz und Pappmaché bestehende, demontierbare Burg konnte in ihren Einzelteilen im Sockel untergebracht werden, die Ritterfiguren hinter einer Klappe in einem der hohlen Gebäude. Verpackt blieb nicht mehr als der trapezförmige Burghügel, hinter dessen Holzklappen die Burg nur darauf wartete, wieder einmal ausgepackt zu werden.

Ebenso erfindungsreich wie wehrhaft präsentierten sich früher in Zörbig auf dem Burghügel die Reste der mittelalterlichen Burg mit dem um 1250 errichteten, 43 Meter hohen Bergfried, der von den Einheimischen nur „Bleistift“ genannt wurde. Im flachen Land, dessen Horizont sich scheinbar bis zur Unendlichkeit über ausgedehnte Rübenfelder erstreckte, war er die Landmarke, die man als heimkehrender Zörbiger mit seinen Blicken suchte.

Der Burghügel und seine vormals wassergefüllten Gräben, die nicht mehr existenten hölzernen Zugbrücken und nicht zuletzt der geheimnisvolle Bergfried waren auch ein literarischer Kindheits- und Sehnsuchtsort für den Schriftsteller Victor Blüthgen (1844–1920). Davon erzählte er am einprägsamsten in seiner Novelle „Das Geheimnis des Dicken Daniel“: Darin entdecken Kinder ein Geheimnis, erfahren mit Mühe und doch voller Neugier das Unbekannte, das sich hinter Erschreckendem und Unheimlichem verbirgt.

Stefan Auert-Watzik (Museumsleiter)

 

51° 37’ 33” N – 12° 06’ 57” O
KULTURQUADRAT Schloss Zörbig – Museum
Am Schloss 10 – 06780 Zörbig



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