Loading...

Susanne Wiermann – Grenzerfahrungen

Früher überschritt ich ständig Grenzen. Auch erzieherische, klar, mit sechs Geschwistern und einem Pulk von Freunden eroberten wir den Wald hinter unserem Haus, bauten schwankende Buden in Baumwipfeln, zwängten uns in ehemalige Abwasserrohre voller Krötenschleim und übertrumpften uns mit Mutproben: eine fast senkrechte Kante quasi im freien Fall herunter radeln, in der Dämmerung alleine durch einen langen, dunklen Tunnel laufen, verbotenerweise über den Bahndamm klettern, weil auf der anderen Seite die schönsten Margeriten wuchsen. Den Margeritenstrauß schenkte ich meiner Mutter.

Aber ich meine richtige Grenzen, Ländergrenzen, die täglich überschritten wurden. Im Wald stromernd verließen wir gelegentlich unabsichtlich deutsches Territorium und betraten schweizerischen Boden. Ich bin in Weil am Rhein aufgewachsen, von meinem Elternhaus aus waren es Luftlinie 500 m bis zur Grenze nach Basel und einen Kilometer nach Frankreich.  Damals gab es noch keine Fußgängerbrücke über den Rhein, dafür eine Fähre. Aggressive Schwäne kontrollierten den Zugang zur Fähre, aber waren sie erfolgreich ausgetrickst, konnten wir Kinder den ganzen Sonntagnachmittag zwischen zwei Ländern hin und her fahren. Der Fährmann war gutmütig. Nur einmal hat er mich verpfiffen, als ich – noch im Kindergartenalter – mit meinem Tretroller auf eigene Faust Frankreich erkunden wollte. Ein paar Kilometer habe ich immerhin geschafft, bevor meine alarmierten Eltern mich wieder einsammelten. Schade, das Elsass war und ist reizvoll. Auf der anderen Rheinseite sprachen die Leute anders (wie meine Oma, aber das habe ich erst kapiert, als ich in der Schule Französisch lernte), kauften Baguette und Croissants, Meerfisch und Muscheln, tranken Wein oder einen Café au lait.

Wollten wir als Jugendliche ins Kino oder ins Theater, Schlittschuhlaufen oder Tanzen, war Basel die nächste – und in meinen Augen ausgesprochen liebenswerte – Stadt. Die Zöllner an der Grenze kannten uns und kontrollierten kaum. Später arbeitete ich mehrere Jahre in Basel. Viele Deutsche arbeiten als Grenzgänger  in Basel, und wenn sie, wie ich, den hiesigen Dialekt sprechen, der dem Schweizerdeutschen sehr ähnelt, fallen sie noch nicht mal als „Uusländer“ auf.

Heute treffen in der kleinen Alterswohnung meiner Mutter drei Telefonnetze aufeinander. Im Schlafzimmer hat sie das deutsche Netz, in der Wohnküche das französische und auf dem Balkon das schweizerische Netz.

Mit den Grenzschließungen zwischen Deutschland, der Schweiz und Frankreich aufgrund der Corona-Pandemie stockt das funktionierende wirtschaftliche, kulturelle und zwischenmenschliche Geflecht im Dreiländereck. Das hat vielfältige Konsequenzen. Mein Neffe forscht in der Uni in Basel und lebt grenznah in Weil am Rhein. Seine schweizerische Freundin dürfte, wenn sie aus ihrer Basler Wohnung Kleidung und Bücher holen wollte, nicht mehr zurück zu ihrem Liebsten, der gerade wegen einer akuten Augenerkrankung in einer deutschen Klinik liegt. Glücklicherweise durfte eine Nichte, die im Elsass lebt, trotz der strikten Corona-Regeln in Frankreich grenzüberschreitend ihre Krebsbehandlung in einem deutschen Krankenhaus abschließen.

Meine Mutter spaziert – Corona hin oder her – weiter zweimal am Tag über das ehemalige LAGA-Gelände „Dreiländergarten“, das an unseren früheren Kinderwald, die Margeritenwiese und an die Schweiz grenzt.

 

Schreiben in Zeiten von Corona (Zeichnung: Sebastian Gerstengarbe)

Zurück zur Übersicht