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Die Indienbeziehungen der Franckeschen Stiftungen und ihre Wiederbelebung nach der deutschen Wiedervereinigung

Allen Widrigkeiten zum Trotz kamen die weltweiten Beziehungen der Franckeschen Stiftungen über dreihundert Jahre hinweg nie ganz zum Erliegen. Daran konnten weder die wechselhaften Konjunktu­ren der Stiftungsgeschichte selbst noch die politischen und gesellschaftlichen Verwerfungen etwas ändern, denen die Stiftungen immer wieder und vor allem im 20. Jahrhundert in rascher Abfolge ausgesetzt waren. Selbst in der DDR-Zeit kamen oft ausländische Gäste in die Stiftungen, nicht selten aus einem starken Traditionsbewusstsein heraus oder vor dem Hintergrund einer historisch gewachsenen Verbundenheit der Stiftungen mit dem eigenen Herkunftsland. Jürgen Storz, der bis zum Ende der DDR als Archivar und Bibliotheksleiter die Quellenschätze der Stiftungen hütete, wurde immer wieder von Wissenschaftlern aus zahlreichen Ländern der Erde besucht und um Unterstützung bei deren Recherchen in den einzigartigen Quellenbeständen der Stiftungen gebeten. Denn gerade die kulturhistorischen Bestände der Stiftungen legen ein besonders beredtes Zeugnis von dem weltweiten Netzwerk des Halleschen Pietismus ab, das August Hermann Francke mit der Gründung seiner An­stalten seit dem Ende des 17. Jahrhundert vor allem über das protestantische Europa gespannt hatte und das darüber hinaus bis in entfernte Winkel Russlands, bis nach Nordamerika und sogar nach Süd­indien reichte.

So umfassen allein die Überlieferungen im Stiftungsarchiv aus der ersten protestantischen Mission, die 1706 auf Geheiß des dänischen Königs mit zwei Studenten Franckes an der  Ostküste Südindiens be­gann und bis in das 19. Jahrhundert hinein von Halle aus organisiert sowie theologisch, personell, materiell und logistisch unterstützt wurde, über 30.000 Manuskripte. Sie sind das Ergebnis eines wohlorganisierten Kommunikationssystems, in dem Berichte, Briefe, Stellungnahmen, Memoranden und andere Dokumente ein fein aufeinander abgestimmtes Informationsgeflecht bildeten. Diese Hand­schriften wurden schon im 18. Jahrhundert sorgsam in eigens dafür angefertigten Archivtruhen auf­bewahrt. Und dort lagen sie auch noch in kleinen wabenartigen Fächern hinter soliden klappbaren Holzladen, als die Rettung und der systematische Wiederaufbau der Stiftungen nach der deutschen Wiedervereinigung an Fahrt gewann. Dem Verfasser dieser Zeilen, der als frisch gebackener Archivar von Jürgen Storz die Hoheit über das Archiv in Form mehrerer beeindruckender Schlüsselbunde erhielt, kam es damals vor, als hätte seit mindestens hundert Jahren niemand mehr die barock verzier­ten Archivtruhen geöffnet, die in dem niedrigen und eigenartig dämmrigen Zwischengeschoss der alten Mädchenwaisenanstalt am Lindenhof standen. Die Manuskripte lagen bündelweise, mit ihrer originalen Signatur versehen, von dickem Staub bedeckt und wirkten, als wären sie seit Ewigkeiten unberührt geblieben. An anderer Stelle im Archiv schlummerten zusätzlich Hunderte von Palmblattmanuskripten, die in den südindischen Sprachen Tamil und Telugu von dem traditionsreichen Kulturaustausch zwischen Indien und Europa zeugten.

Als das Archiv als wichtiger Arbeitszweig der neu formierten Stiftung für die öffentliche Nutzung wieder geöffnet wurde, setzte umgehend ein großer Zulauf ein. Viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus dem Westen Deutschlands reisten mit dem Gefühl nach Halle, nun erstmals nach vielen Jahrzehnten ohne Einschränkungen die Bestände nutzen zu dürfen und ihren wissenschaftlichen Fragestellungen frei nachgehen zu können. Auch aus dem Ausland regte sich ein starkes Interesse an den Beständen. Bereits kurz nach der Wende kam ein junger tamilischer Wissenschaftler in die Franckeschen Stiftungen, der sich dort mit seiner kleinen Familie niederließ und über mehrere Jahre hinweg das Stiftungsarchiv und insbesondere die Indienbestände beforschte, um seine Dissertation an der theologischen Fakultät der Martin-Luther-Universität zu schreiben. Daniel Jeyaraj, heute ordentlicher Theologieprofessor in Liverpool und ein Wissenschaftler von Weltruf, stellte damals auch den Kontakt zwischen dem Stiftungsdirektorium und der Tamil Evangelical Lutheran Church (TELC) her, jener Kirche, die aus der alten Dänisch-Halleschen-Mission hervorgegangen ist. Daraufhin erschien Mitte der 1990er Jahre in den Franckeschen Stiftungen eine kleine Delegation aus Südindien unter der Leitung von Dr. Rajaratnam, dem Direktor eines lutherischen College in Chennai, der Hauptstadt des südindischen Bundesstaates Tamil Nadu. Die indischen Besucher brachten, so wie zahlreiche nach ihnen, ihre große Hochachtung vor den Franckeschen Stiftungen als der geistigen und geistlichen Wurzel ihrer eigenen Kirche zum Ausdruck. Dr. Rajaratnam, ein resoluter älterer Herr von schmaler Statur und beeindruckender Ausstrahlung, meldete aber umgehend bei dem erstaunten Stiftungsdirektor Prof. Dr. Paul Raabe seinen Anspruch auf alle indienbezogenen Quellenbestände an, die im Stiftungsarchiv aufbewahrt werden. Seinen Anspruch begründete er damit, dass die unzähligen Manuskripte schließlich ihre indische Geschichte enthielten, deswegen für die indischen Christen von identitätsstiftender Bedeutung seien und insofern nach Indien gehörten. Der Forderung wurde durch das bevorstehende 300. Gründungsjubiläum der Dänisch-Halleschen-Mission, das man zusammen vorbereiten und 2006 als internationales Ereignis begehen wollte, zusätzlicher Nachdruck verliehen.

Prof. Raabe war sich der Bedeutung der neu gespannten Beziehungen nach Indien für die Stiftungen bewusst. Deswegen erwog er, Kopien des Indienarchivs anfertigen zu lassen, um sie in dem College in Chennai, dem Dr. Rajaratnam vorstand, fortan auch der indischen Wissenschaft ohne umständliche Reisen zugänglich zu machen. Der Stiftungsarchivar schlug dagegen vor, zunächst die mehreren zehn­tausend Handschriften systematisch zu inventarisieren und inhaltliche Zusammenfassungen jedes einzelnen Manuskripts anzufertigen. Es gelang dann tatsächlich, von der Deutschen Forschungs­gemeinschaft hierfür die notwendigen Mittel einzuwerben. Als Glücksfall kam noch hinzu, dass sich das Leipziger Missionswerk damals dazu entschloss, sein historisches Missionsarchiv künftig in den Franckeschen Stiftungen aufbewahren und fachlich verwalten zu lassen, das ergänzende Quellen­bestände enthielt. Das Ergebnis war eine Datenbank mit Inhaltsangaben und zahlreichen Register- und Suchfunktionen zu insgesamt 35.000 Manuskripten, die seitdem weltweit im Internet zugänglich ist. Zusätzlich wurden Mikrofilmkopien von weiten Teilen des Indienarchivs angefertigt und an das Partnercollege in Chennai übergeben. Auf dieser Grundlage konnte das Jubiläum 2006 in Halle und anderen Orten Deutschlands ebenso wie in Südindien, aber auch in Dänemark mit zahlreichen Ausstel­lungen, Publikationen und Festveranstaltungen begangen werden. Das festigte die neu gewonnene Partnerschaft nachhaltig, aus der seitdem zahlreiche Folgeprojekte in der Tradition eines echten inter­kulturellen Austauschs hervorgegangen sind.

Prof. Dr. Thomas Müller-Bahlke
Direktor der Franckeschen Stiftungen

Historischen Bibliothek-Archivtruhen (Foto: Franckesche Stiftungen, Halle)

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