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Resonanzen. Frequenzen der Bezogenheit (AT) – ÜBER ALLE MAßE 11/WBS 70

Das Projekt verfolgte das Ziel, die Plattenbau-Architektur in Halle in ihrem Klangpotential auszuloten und darzustellen. Hierin sollte ein neuer Zugang zu den verschrienen Großwohnsiedlungen abseits der innenstädtischen Strukturen erzeugt werden. Jedoch begann das Projekt vor allem mit verschlossenen Türen: Aufgrund der Corona-Bedingungen blieben Räume verriegelt und Chorleiter vorsichtig. Die Künstlerin musste sich daher einen anderen Zutritt ver- und erschaffen, um körperliche Anwesenheit auszuschließen. Die erste Projektphase basierte deshalb auf tiefgreifender Recherchearbeit, die sowohl historische Hintergründe als auch Sozialstudien umfasste und der Frage nachging, wie aus der Großtafelbauweise Klang oder sogar Musik werden kann. Im Stadtarchiv Halle konnte sie anhand von Bauplänen und Korrespondenzen der Stadtarchitekten einen Einblick in die Baugeschichte der verschiedenen Großwohnsiedlungen in Halle gewinnen. Die Geschichte des Stadtteils Halle-Silberhöhe war dabei besonders augenfällig, weil sich hier die wirtschaftlich prekäre Lage der DDR und der nicht bewältigte Strukturbruch der Nachwendezeit bereits in der Planung des Viertels abzeichnen. Sollte mit dem Entwurf für Halle Neustadt noch das Versprechen einer sozialistischen Utopie eingelöst werden, so gestaltete sich die Architektur in Halle-Silberhöhe tatsächlich zu einer „ortlosen“: Die Wohnungsbauserie 70, die hier verbreitet zum Einsatz kam, repräsentiert dabei den Idealtypus des späten Wohnungsbaus und wurde auf dem gesamten Gebiet der DDR errichtet. Mit so geringem Kosten- und Technikaufwand wie möglich sollten so viele Wohnungen wie möglich entstehen. Individuelle Anpassungen oder Ortsbezüge wurden daher vermieden. Die Siedlung Silberhöhe, die zwischen 1979 und 1989 gebaut wurde, war zunächst für 31500 Menschen geplant. Die Zahl stieg schnell auf 44000, da der Industrieregion hohe Abwanderungszahlen drohten und schnell attraktive Angebote geschaffen werden mussten. Erreicht werden sollte dieser Zuwachs durch eine „Verdichtung“ der Wohngebäude: Der Anteil der 11-geschossigen Bauten wurde ab Mitte der 1980er Jahre nach oben korrigiert, was die Verminderung der Wohnqualität und die bautechnische Vernachlässigung von Infrastruktur zur Folge hatte. Demgegenüber war es nach der Wiedervereinigung ein beständiger Prozess der Abwanderung, der in der Silberhöhe Einzug hielt. Immer mehr Neubauwohnungen blieben unbewohnt und verwaisten. Stattdessen zog neben dem Leerstand auch Perspektivlosigkeit, Altersarmut, hohe Gewaltbereitschaft und Fremdenhass ein. Nur wenig Jahre nach ihrer Entstehung kulminierte die unfertige Einheitssiedlung zum sozialen Endpunkt.
Am 30.05.2001 war es schließlich eines jener 11-geschossigen Wohnblöcke, die Mitte der 1980er Jahre zugunsten der Verdichtung hochgezogen wurden, die aufgrund der mangelnden Finanzierung zuerst abgerissen musste. Inspiriert von dem Projekt „Resurrexit – Translokale Monumente“2, in dem vom Verschwinden bedrohte Räume akustisch archiviert werden, hat Margarita Wenzel die Bedingung körperlicher Abwesenheit als eine Maßgabe wahrgenommen, um ein Gebäude zu verklanglichen, das physisch ebenso abwesend ist. Mit zeichnerischen Mitteln und einem Algorithmus hat sie infolgedessen eine Komposition entwickelt, die den ehemaligen 11-Geschosser am ehemaligen Rohrweg 1 in „Automatisierte Musik“ transkribiert. „Automatisierte Musik“ bezeichnet einen formalen Vorgang, durch den Musik unter minimalem menschlichem Eingriff entsteht. Solche „außermenschlichen Prozesse“ basieren auf der mathematischen Struktur von Musik und dem Versuch kraft eines vorgegebenen Katalogs von Anweisungen die Lösung eines bestimmten Problems aufzuspüren. Ähnlich dem Bauprogramm der Wohnbauserie 70, wird die Gestaltung von diesem Baukastsystem gerahmt und gleichwohl reduziert. Anhand des Grundrisses und dem Montageplan des Wohnblocks am Rohrweg 1 hat sie zunächst eine zeichnerische und numerische Notation erstellt, die anschließend durch einen automatisierten Score in Töne und Noten übersetzt wurde. Sowohl die Zeichnung als auch der Score orientieren sich an die Methodik der Notenrolle, die wiederum an der Funktionsweise einer Klaviatur angelehnt ist. Aus diesem Grund hat sie die Komposition „Über alle Maße“ nachfolgend von Nadine Klusacsek am Flügel einspielen lassen. Als Klangraum fungierte hierbei einzig das Instrument selbst. Die Aufnahme der einfachen Komposition ist nachfolgend technisch „verdichtet“ worden, was – vergleichbar zu den aufgestockten Wohnhäusern – sowohl zur Expansion des räumlichen Klangvolumens als auch zum Verlust einzelner, spezifischer Töne durch Überlagerung geführt hat. Ebenso ist die Wahl des Tonträgers von der Großtafelbauweise inspiriert: Schließlich wurde der Sound des abgerissenen Platten-Baus auf Schall-Platte gepresst.



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