VERA ICONA – Sein oder Schein. Eine Abhandlung über Wahrheit und Unwahrheit

Wie kann man als Buchkünstlerin die Wahrnehmung beeinflussen – das war
die Frage, mit der sich Friederike von Hellermann auseinander setzte. Sie wird
beim Buch maßgeblich beeinflusst durch das verwendete Papier und die Abfolge
der gebundenen Seiten.
Sie verfolgte dabei verschiedene Ansätze. Sie schnitt den
Text manuell aus, so dass beim Blättern Licht durch ihn hindurchfällt und auf
die folgende Seite geworfen wird. Das Erlebnis des Blätterns wird dadurch ein
ganz anderes als bei einem gewöhnlichen Buch: Der Text ist nicht starr auf der
Seite festgehalten, sondern in Bewegung.
Dieses Prinzip des Lichtdurchfalls wurde auch bei einer
weiteren Arbeit umgesetzt. Zu dem Gedicht „Tränen“ von Friedrich Hölderlin stanzte
sie Sternenbilder in die blauschwarzen Seiten eines Buches. Durch den Wechsel
der blauschwarzen und weißen Seiten wird das Sternenbild einmal als Standbild
wahrgenommen, beim Umblättern jedoch als eine Art Sternschnuppengruppe auf der
folgenden weißen Seite. Die Wirkung ist dreidimensional.
Im Buch, das zu dem Gedicht „Träume“ von Mathilde Wesendonck
entstand, nutzte die Buchkünstlerin transparentes Papier. Fünf Schmetterlinge trug
sie auf sehr dünnes und durchscheinendes chinesisches Reispapier in der
Technik des Schablonendrucks auf. Die Beschaffenheit dieses Papiers widerspiegelt
zum einen die Eigenschaften der Schmetterlingsflügel und ermöglicht zum anderen
einen Blick auf deren Unterseite. Die Zeilen des Gedichtes scheinen zunächst
fast ein wenig verschwommen durch die Seiten des Reispapiers hindurch und verweisen
damit die Besonderheiten des Träumens. Beim Blättern werden sie zunächst
schärfer, um beim nächsten Umblättern wieder zu verschwimmen.
Außerdem ergründete Friederike
von Hellermann, verschiedene Arten der Wahrnehmung und der optischen Täuschung –
bei Wende- und Schattenbilder sowie durch grafische Muster. Das Motiv der
Grafikreihe sind ausgestorbene Vögel. Sie werden grafisch so umgesetzt, dass durch
das grafische Muster eine räumliche Wirkung hervorgerufen wird. Das Flirren
wegen der Kleinteiligkeit der Muster ist eine Anspielung auf eine Art Fata
Morgana, eine Vision. Man hat das Gefühl, dass einem das, was man sieht, zu
entfliehen droht – es bleibt eine Unsicherheit der Wirklichkeit des Eindrucks. Wie
auch bei den anderen Arbeiten interagieren Inhalt und Form: Der Inhalt bestimmt
die Form, die Form bestimmt die Wahrnehmung, die Wahrnehmung wiederum das
Verständnis des Inhalts.


