Vietnams berühmtestes Epos: „Das Mädchen Kiéu“

„Das Mädchen Kiéu“ ist DAS Werk der vietnamesischen Literatur. Geschrieben wurde es im 18. Jahrhundert von Nguyen Du (1765–1820), einem der größten Dichter des asiatischen Landes und durchaus mit den Größen der Weltliteratur – Shakespeare, Cervantes, Tschechow – in einem Atemzug zu nennen. 3254 Verse hat das Epos; es ist Schulstoff in Vietnam, wurde in 20 Sprachen übersetzt und war Inspiration für zahlreiche Werke aus Literatur, Musik, Theater, Film.
Das Epos erzählt in der klassischen vietnamesischen Versform „Luc bat“ und in der damals gebräuchlichen Nom-Schrift die Geschichte des Mädchens Kiéu. Das muss sich opfern, um seine Familie zu retten. Die Erzählung ist eine von Liebe und Finsternis, die sich über 15 Jahre erstreckt und die Odyssee der jungen Frau schildert, der es gelingt, trotz äußerer Bedrängnis ihre Würde zu bewahren und ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Der Versroman ist für die Literatur Vietnams wegweisend. Wie kein zweiter verstand es der Autor Nguyên Du, die volkstümliche vietnamesische Versschöpfung mit der gediegenen Kultur chinesischer Klassik zu verbinden. „Das Mädchen Kiêu“ wird nicht nur wegen seiner fortschrittlichen Thematik bewundert, sondern auch wegen seiner poetischen Sprache.
„Durch leere Räume und
durch späte Nacht
bin ich,
der Blüten wegen, noch einmal
den Pfad gegangen, um
dem Liebsten nah zu sein.
Jetzt stehen wir
uns wirklich gegenüber – doch
wer weiß,
ob später dies nicht nur
als Traum
in unserer Erinnerung leben wird“,
heißt es im Text der deutschen Übersetzung von Franz und Irene Faber.
Das Epos spielt in einer Zeit voller politischer Widersprüche, sittenwidriger Dekadenz und gesellschaftlichem Zerfall. Die Versklavung der Frauen und die unerträgliche Lebenssituation einfacher Bauern während der Zeit des damals herrschenden feudalen Systems wird in der Geschichte Kiéus beschrieben: Um seinen enteigneten Vater, der seine Schulden nicht rechtzeitig begleichen konnte, und seinen jüngeren Bruder vor dem Gefängnis zu bewahren, muss das Mädchen seinen Körper an die feudale Herrschaft verkaufen. Vergewaltigungen, Demütigungen, Misshandlungen folgen. Durch zahllose Etappen ihres geschundenen Lebens muss Kiéu wandern; nach zwei Selbstmordversuchen aber findet die Geschichte ein glückliches Ende. Kiéu ist mit ihrem Geliebten und mit ihren Eltern am Ende wieder vereint. Endgültige Erlösung aber findet sie in der buddhistischen Religion.
„In hundert Jahren, die
vielleicht
ein Leben währt,
in dieser Erdenspanne widersprechen oft
sich Gabe und Geschick.
So mußte ich in Zeiten, da
Gedanken sich
und Menschen wandelten wie Meere – aus
den Wogen wuchsen Maulbeerfelder -, Dinge schauen, die
mein Herz zerrissen. Welch Gesetz,
das nur
den Überfluß begreift,
wenn Mangel ihn begleitet! Muß
der blaue Himmel stets
mit rosenroten Wangen kämpfen, weil
die Eifersucht ihn quält?“
Allein in diesen Zeilen aus dem Prolog zeigen sich das sprachliche und künstlerische Können Nguyen Dus. Diese Wucht, verbunden mit der Schilderung der feudalen Verhältnisse und der deutlichen Kritik daran sowie der Schilderung der sozialen und politischen Umbrüche jener Zeit, werden auch heute noch häufig als Allegorie auf gesellschaftliche Missstände angewandt. Das Epos ist ein Plädoyer für die Würde des Menschen, das auch heute noch volle Gültigkeit hat.
