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„So stelle ich mir eine Kur vor“ – Interview mit Sebastian Gerstengarbe

Sebastian Gerstengarbe, Grafiker, im Nebenberuf Dozent, Kurator, Texteschreiber

 

Kunststiftung: Herr Gerstengarbe, wie geht es Ihnen zur Zeit?

Sebastian Gerstengarbe: Eigentlich ganz gut. Jetzt ist ja viel Zeit, allerdings fallen die vielen kleinen Sachen, die man sonst so zwischendurch machen konnte, weg. Man will irgendwo einen Kaffee trinken – geht nicht. Man will ins Kino – geht nicht. Man will die Stadt verlassen – geht auch nicht.

 

Woran arbeiten Sie denn gerade?

Ich zeichne kleine Porträts von Romantikern, die später einmal in ein großes Bild eingefügt werden als Teil der Neugestaltung der Oberburg Giebichenstein und des Amtsgartens. Ich schreibe dafür auch Texte, die eigentlich schon längst hätten fertig sein sollen. Für mich persönlich ist die derzeitige Ruhe ganz gut, ich hatte mir zu viel vorgenommen und kann das jetzt mit Zeit zum Denken abarbeiten.

 

Woran denken Sie als erstes, wenn Sie morgens aufwachen?

Erst  ist da das blöde Triumphgefühl, nicht aufstehen zu müssen, denn an den zwei Tagen in der Woche, an denen ich unterrichte, hätte ich um diese Zeit ja so tun müssen, als wäre ich schon wach. Aber dann setzt der Verstand ein und ich verstehe, dass ich dafür jetzt kein Geld bekomme.

 

Was ist Ihnen denn weggebrochen?

Ich gestalte immer den Titel für das Puschkino, fällt in diesem Monat aus. Das Plakat für die Literaturnacht der Kunststiftung durfte ich zeichnen, die wurde aber – wie alles – auf unbestimmte Zeit verschoben.

 

Was macht die allgegenwärtige Situation mit Ihnen?

Als Künstler hockt man sowieso viel rum und grübelt, das hat sich nicht so verändert. Aber jetzt sitzen die ganze Zeit noch andere Menschen im Nebenraum, die auch grübeln oder Playstation spielen. Beim Einkaufen führt man plötzlich so eine Art Ballett auf, weil man schnell zur Seite springt, wenn sich jemand nähert. Das ist nicht normal. Das Vertrauen, das man eigentlich gegenüber den Mitmenschen grundsätzlich aufgebaut hat, wird gerade im Eiltempo abgebaut.

 

Was bedeutet Ihnen Heimat momentan?

Ach, das große, böse Wort. Natürlich fühlt man sich gewissen Orten verbunden, aber die geistige Heimat kann überall auf der Welt und alles Mögliche sein. Leute, die man gut findet. Zum Beispiel ist der tolle amerikanische Songschreiber John Prine im kritischen Alter, hat schon zweimal Krebs überstanden und wird jetzt wegen  Covid 19 beatmet. Da mache ich mir unbekannterweise Sorgen. Prinzipiell fühle ich mich der Stadt Halle verbunden, bin aber kein Lokalpatriot.

 

Ein Blick in die Zukunft: Wird sich für Sie etwas ändern?

Das weiß ich nicht. Im Idealfall macht man etwas ganz Neues, was man schon immer tun wollte, wofür aber nie Zeit war.

 

Auch Sebastian Gerstengarbe erlebt plötzlich die Situation, dass tagsüber alle Familienmitglieder zuhause sind. Unerwartet viele und lange Spaziergänge unternähme er gerade, sagt er. Zusammen mit seinem Sohn, der diese Abwechslung allerdings nur mäßig spannend findet. Und neue Rituale haben Einzug gehalten: Das Abendessen wird immer wichtiger und danach das Fernsehen zu dritt. So stelle er sich eine Kur vor, sagt Sebastian Gerstengarbe, oder das Rentnerdasein. Hauptsache, man fände da auch wieder raus!

 

 

1973 in Halle (Saale) geboren | 1992–2000 Studium und Aufbaustudium an der Burg Giebichenstein – Hochschule für Kunst und Design Halle, Studiengang Malerei/Grafik | 2001 Ausstellung in der Blauen FABRIK, Dresden | 2005 Stipendium des Künstlerhauses Salzwedel, 2006 Ausstellung ebd. im Danneil-Museum | 2005 Kunstpreis Energie, 2006 Preisträgerausstellung in Cottbus und Dessau | seit 2006 vertreten auf der Art Cologne | 2007 Einzelausstellung in der Galerie Wilma Tolksdorf, Frankfurt (Main); 2008 in deren Berliner Dependance | freischaffend in Halle (Saale) tätig

 

S. Gerstengarbe, "Tüte", 2017

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